70582 Obraz9 (15)

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harmlosen Grufi eines achtbaren Biedermanns geriihrt und iibereifrig ja und amen sagte und mich im Genufi von ein bifichen Wohtwollen, Achtung und Freundlichkeit wie ein Ferkel walzte. So standen die beiden Harrys, beides auficr-ordentlich unsympathische Figuren, dem artigen Professor gegeniiber, verhóhnten einander, beobachteten einander, spuckten voreinander aus und stellten sich, wie immer in solchen Lagen, wieder einmal die Frage: ob das nun einfach menschliche Dummheit und Schwache sei, allgemeines Menschenlos, oder ob dieser scntimentale Egoismus, diese Charakterlosigkeit, diese Unsauberkeit und Zwiespaltigkeit der Gefiihle blofi eine persónliche, steppenwólfische Spe-zialitat sei. War die Schweinerei allgcmein menschlich, nun, dann konnte sich meine Weltverachtung mit erneuter Wucht darauf sturzen; war es nur meine persónliche Schwache, so ergab sich daraus Anlafl zu einer Orgie der Selbst-verachtung. /

Uber dem Streit zwischen den beiden Harrys wurde der Professor beinahe vergessen; plótzlich war er mir wieder la-stig, und ich eilte, ihn loszuwerden. Lange sah ich ihm nach, wie er unter der kahlen Allee davonging, mit dem gutmiitigen und etwas komischen Gang eines Idealisten, eines Glaubigen. Heftig tobte die Schlacht in meinem Innern, und wahrend ich mechanisch die steifen Finger kriimmte und wieder streckte, im Kampf mit der heimlich wiihlenden Gicht, muCte ich mir gestehen, dafi ich mich da hatte iiber-tólpeln lassen, daS ich mir nun eine Einladung auf halb acht Uhr zum Abendessen auf den Hals geladen hatte samt Ver-pflichtung zu Hóflichkeiten, wissenschaftlichem Ge-schwatze und Betrachtung fremden Familiengliicks. Zornig ging ich nach Hause, mischte Kognak und Wasser, schluckte dazu meine Gichtpillen hinunter, legte mich auf den Diwan und versuchte zu lescn. Ais es mir endlich ge-lungen war,'eine Weile in „Sophicns Reise von Memel nach Sachsen" zu lesen, tinem entzuckenden Schmóker aus dem achtzehnten Jahrhundert, fiel mir plótzlich die Einladung wieder ein und daB ich nicht rasiert war und dafi ich mich anziehen musse. Weifi Gott, warum ich mir das angetan hatte! Also, Harry, steh auf, lege dein Buch weg, seife dich ein, kratze dir das Kinn blutig, zieh dich an und habc ein Wohlgefallen an den Menschen! Und wahrend ich mich cinseifte, dachte ich an das dreckige Lehmloęh im Friedhof, in das man heute den Unbekannten hinuntergeseilt hatte, und an die verkniffenen Gesichter der gelangweilten Mit-christen und konnte nicht einmal dariiber lachen. Dort en-dete, so schien mir, an jenem dreckigen Lehmloch, bei den dummen verlegenen Worten des Predigers, bei den dum-men verlegenen Mienen der Trauerversammlung, bei dem trostlosen Anblick all der Kreuze und Tafeln aus Blech und Marmor, bei all den falschen Draht- und Glasblumen, dort endete nicht nur der Unbekannte, don wiirde nicht nur morgen oder iibermorgen auch ich enden, verscharrt, unter Verlegenheit und Verlogenheit t der Teilnehmer in den Dreck gescharrt, nein, so endete alles, unser ganzes Stre-ben, unsre ganze Kultur, unser ganzer Glaube, unsre ganze Lebensfreude und Lebenslust, die so sehr krank war und bald auch dort eingescharrt werden wiirde. Ein Friedhof war unsre Kulturwelt, hier waren Jesus Christus und Sokrates, hieren waren Mozart und Haydn, waren Dante und Goethe blofi noch erblindete Namen auf rostenden Blechta-feln, umstanden von verlegenen und verlogenen Trauern-den, die viel dafiir gegeben hatten, wenn sie an die Blechta-feln noch hatten glauben kónnen, die ihnen einst heilig gewesen waren, die viel dafiir gegeben hatten, auch nur we-nigstens ein redliches, ernstes Wort der Trauer und Ver-zweiflung iiber diese untergegangne Welt sagen zu kónnen, und denen statt allem nichts blieb ais das verlegne grin-sende Herumstehen an einem Grab. Wiitend kratzte ich mir am Kinn die ewige Stelle wieder auf und atzte eine Weile an der Wunde, mufite aber dennoch den cben angclcgten frischen Kragen nochmals wechseln und wufite durchaus nicht, warum ich das alles tue, denn ich fiihlte nicht die mindeste Lust, zu jener Einladung zu gehen. Aber ein Stiick von Harry spielte wieder Theater, nannte den Professor einen sympathischen Kerl, sehnte sich nach ein wenig Menschengeruch, Schwatz und Geselligkeit, erinnerte sich an des Professors hiibsche Frau, fand den Gedanken an einen Abend bei freundlichen Gastgebern im Grunde doch recht ermunternd und half mir ein englisches Pflaster aufs Kinn kleben, half mir mich anziehen und eine anstandige Krawatte umbinden und brachte mich sanft davon ab, mei-nem eigentlichen Wunsch zu folgen und zu Hause zu blei-

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